Thomas Weiler

Donkromuta truduta klinkuta

Es war Erde in ihnen, und
sie gruben.

Paul Celan

Was für eine bittere Ironie, dass die Zweitauflage dieses Romans, in dem so viel gegraben und sich an der Heimaterde abgearbeitet wird, dem Erdboden gleichgemacht wurde. In Litauen gedruckt, wurde sie im März 2021 vom belarussischen Zoll konfisziert und wegen Extremismusverdachts einer Expertenkommission zur Prüfung vorgelegt. Im Mai 2022 schließlich wurde der Roman als erstes belletristisches Werk in Belarus überhaupt als extremistisch eingestuft, aus Buchhandlungen und Büchereien entfernt und mit Traktoren unter die Erde gebracht. Wie mögen diese Experten Europas Hunde gelesen haben? Welche Kapitel, Figuren, Gedanken haben sie besonders angesprochen? Hat sich ihnen die Schönheit der Kunstsprache Balbuta offenbart? Was hat sie so alarmiert? Wir kennen nur ihr Urteil und die Folgen.

Wer eine erst vor kurzem erfundene Sprache spricht, macht sich in gewisser Weise vor der Weltgeschichte unsichtbar. Die Weltgeschichte hasst so was. Sie beginnt zu knurren, zu ahnden, zu zielen. All die naturgewachsenen Sprachen wurden über Jahrhunderte geformt und abgeschliffen, bestimmte Wörter tunneln sich so weit in die Vergangenheit zurück, dass wir vor ihrem schwindelerregenden Bedeutungswandel wie vor einer Art Gottheit stehen. Nur in einer neuen, völlig geschichtslosen Sprache können dich die alten Götter nicht erkennen. Du bist frei, umtriebig. Du bist gefährlich.

(Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp 2020, S. 342f.)

Der Wille zur Freiheit, zur Loslösung von der drückenden Norm, das Eskapistische ist vielen Figuren aus dem Romankosmos eigen. Sie stehen abseits, fallen aus dem Rahmen, haben eigene Köpfe, sind locker geschraubt. Sie flüchten sich in Kunstsprachen, auf Gänserücken, in Märchenwelten, ins Fetischistische, Papierne und spüren doch immer die Erdenschwere, die inneren Wackersteine. Wer sich vom Gebell der Hunde Europas nicht Bange machen lässt, wer sich eingräbt, sich hineintunnelt in diesen großen Text, wird mit zahlreichen Irritationen belohnt. Im Folgenden will der Übersetzer hier und da ein kleines Grubenlicht anzünden. Es soll keineswegs die Geheimnisse ausleuchten (Imatu sigrutima!), kann aber vielleicht Erhellendes zur deutschen Fassung beitragen.

Im Zentrum die beiden Originale, gerahmt von Celan, Chodassewitsch, Darlon, Joyce, Lagerlöf, Nabokov …
Foto: Thomas Weiler

Sprachenvielfalt

Im Roman wird wie auch in Belarus neben Russisch Belarussisch gesprochen, außerdem Trasianka, eine Mischform, die Merkmale beider Sprachen in sich vereint. Die Erzählerstimme spricht Belarussisch. Um auch in der Übersetzung anzuzeigen, in welcher Sprache wir uns gerade befinden, werden Begrüßungen mitunter im O-Ton belassen. Russisches wird nach der bekannten Duden-Transkription wiedergegeben (Sdrawstwujte, Priwet), Belarussisches nach der Łacinka, der belarussischen Lateinschrift mit Sonderzeichen (Zdaroŭ, Dobry dzień). Zudem lässt sich an der Schreibung der Namen bisweilen ablesen, ob gerade Belarussisch (Maŭčun), Russisch (Moltschun) oder etwas dazwischen gesprochen wird (Maltschun). Die constructed language Balbuta blieb in der Übersetzung weitgehend unberührt bis auf wenige Konstruktionen, die für deutschsprachige Leser schwerer zu knacken wären als für Menschen mit Kenntnissen in slawischen Sprachen. Ob der Name der Sprache sich tatsächlich von „balavern“ herleiten lässt, ist fraglich. Das lateinische balbutire bedeutet jedenfalls so viel wie stammeln, stottern oder lallen, ebenso das esperantische balbuti. Balbuta lebt auch außerhalb des Romans. Es gibt ein balbutanisch geführtes Weblog (balaguta), eine Facebookgruppe, und den Internationalen Balbuta-Tag am 10. Januar.

Dass der Autor seiner Leserschaft im belarussischen Text Auszüge aus Rezept Nr. 281 (Rebhühner, alte, gedämpft) aus einem 1930 erschienenen Lebenslexikon in der deutschen Originalfassung zugemutet hat, hat uns zu ähnlichen Wagnissen ermuntert. Ein Rezept für Hammelhoden (Granelli fritti) aus Pellegrino Artusis Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens, das in der deutschen Übersetzung von Thomas Münster (Mary Hahn‘s Kochbuchverlag 1982) nicht enthalten war, bringen wir im italienischen Original.

Johannes Ittmanns Sprichwörter der Kundu, aus denen Kaštanka so gerne zitiert, sind noch antiquarisch erhältlich. Bedenkenswert ist zum Beispiel Eintrag Nr. 1346: „Sombo e sa loakana wábu dibokí.“ (Ein Hundsaffe schilt nicht den anderen wegen der Gesäßschwielen.“)

Und noch eine schwindelerregende Fußnote obendrauf: Die belarussischen Hunde Europas heißen Сабакі Эўропы (Sabaki Eŭropy), mehr zu Swahili und Sabaki hier.

Verschüttete Quellen

Bacharevič schöpft aus vielen Quellen. Solche, denen Zitate für die Übersetzung entnommen wurden, sind im Impressum der deutschen Ausgabe verzeichnet (Joyce, Puschkin, Nabokov, Chodassewitsch, Celan …). Immer wieder werden aber auch Quellen angezapft, die noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen oder die hierzulande kaum bekannt sein dürften. Etwa in Teil VI:

Seite 650

Doch nicht umschlossen vom Panzer aus Eis, nicht von eisigem Wasser begossen …“, sagte Skima. Das waren nicht seine Worte. Es war etwas, das ihm der trübe, schwere Rum eingeflüstert hatte, der ihn inwendig mit seiner leblosen Hitze versengte.

Nein, das waren nicht seine Worte. Es waren Worte des Volksdichters der BSSR Arkadź Kulašoŭ (1914–1978) aus seiner Ballade Das Komsomol-Büchlein (Камсамольскі білет). Darin wird ein Komsomolze von einem feindlichen Gendarm aufgefordert, sich loszusagen und sein Komsomol-Büchlein zu verbrennen, dann käme er frei. Als er das nicht tut, wird er barfuß in die bittere Kälte hinausgejagt und mit Eiswasser übergossen. (Bacharevič führte in einem Essay aus, dass der Komsomolze nicht nur barfuß war, sondern splitternackt, aber dieses erotische Bild wäre der Zensur zum Opfer gefallen.) Das Büchlein ans Herz gedrückt, steht er in der Schlussstrophe da: „Doch nicht umschlossen vom Panzer aus Eis, / nicht von eisigem Wasser begossen, – / gegossen aus Bronze und sonnenbeglänzt / steht er in Ewigkeit über der Erde. Bekannt ist der Text auch in der Vertonung der Pesnjary im Stile einer Rockoper. Bacharevič verwendet das Zitat auch in seinem Roman Дзеці Аліндаркі (Alindarkas Kinder, 2014, S. 251), in Хлопчык і сьнег (Der Junge und der Schnee, 2023, S. 24) wird die Ballade ebenfalls erwähnt. Hier rezitiert ein putzig kostümierter Schüler eine russische Nachdichtung:

Und noch eine weitere Panzer-Stelle, mit der Skima in Minsk konfrontiert wird: „Der Panzer wird geputzt am Haus der Offiziere … So beginnt ein Gedicht des sowjetbelarussischen Lyrikers Pimen Pančanka (1917–1995) aus dem Jahr 1965. Der T-34-Panzer wurde 1952 neben dem Haus der Offiziere auf einen Sockel gestellt, steht dort heute noch (und steht bei Skimas Minsk-Besuch kurz vor seinem hundertjährigen Jubiläum).

Seite 519

Die Göttin Ikea, Schutzherrin von Belarus, vergoss über das Land die Strahlen ihres Rums. Dann kam der Überdruss. Ikea leerte sich. Ikarus stürzte ab. Und nun stand der blaue Kubus an der Schnellstraße nach Mahiloŭ, ragte unlustig aus der Landschaft, erinnerte an sein erstes Erscheinen, wartete auf neue Herren … Und doch hatte es sie gegeben, sie war da gewesen, diese eine Minute Nationalstolz. Auch wir hatten unsere Ikea. Auch wir konnten uns Menschen nennen. Erde, Freiheit, Brot, Ikea …

Hier wird eine bekannte Zeile aus dem Hymnus Mahutny Boža (Allmächt‘ger Gott) der Lyrikerin Natalla Arsenneva (1903-1997) verballhornt. Dort heißt es eigentlich: „[über Belarus] gieß aus deines Ruhmes Strahlen“, bei Bacharevič wird chvala (Ruhm) zu chalva (Halva). In der Übersetzung wurde Ruhm zu Rum verschnitten. Wenige Zeilen zuvor wird ein weiterer Text durch den Kakao gezogen, der zeitweise als belarussische Hymne galt: Aus „Radzima maja darahaja“ (Heimat, meine teure) wird „Ikea maja darahaja“, einige Zeilen weiter müssen auch noch zwei kanonische Gedichte des Nationaldichters Janka Kupała dran glauben, darunter das „Weißruthenische Nationallied“, wie Rudolf Abicht es in seiner 1919 veröffentlichten Übersetzung nannte (in: Walter Jäger: Weißruthenien. Land, Bewohner, Geschichte, Volkswirtschaft, Kultur, Dichtung. Berlin 1919, S. 136ff).

Alexej Tolstois utopischer Roman Гиперболоид инженера Гарина (Das Hyperboloid Ingenieur Garins), entstanden 1926/27 nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris, liegt zwar in deutscher Übersetzung vor (Geheimnisvolle Strahlen, Ü: Arnold Wassenhauer, Anneliese Bausch, Verlag Kultur und Fortschritt 1957), ist aber kaum bekannt. Doch die geheimnisvollen Strahlen leuchten verschiedentlich in Europas Hunde auf, und sei es nur motivisch. Zwei kurze Tolstoi-Zitate mögen das veranschaulichen: „Das war der persönliche Safe des Diktators. Er barg nicht Gold oder wichtige Papiere, sondern einen Schatz, der für Garin noch weit kostbarer war, nämlich den bereits in Europa engagierten dritten Doppelgänger. […] Garin setzte sich vor den Toilettentisch. Ohne sich einzuseifen, kratzte er sich hastig den Bart ab.“ (S. 350f) „Auf dem linken Ufer [der Seine], bis zum Ministerium des Äußeren, dösten längs der granitenen Böschung die Straßen-Antiquare neben ihren Büchern, die in dieser Stadt schon längst niemand mehr brauchte.“ (S. 164)

Cover der russischen Ausgabe, Gosisdat 1927
Quelle: Wikimedia Commons

Manchmal hat man als Übersetzer ein unmarkiertes Zitat erkannt, die Quelle gefunden und sogar entsprechende deutsche Übersetzungen aufgestöbert und muss dann trotzdem improvisieren.

Oleg Olegowitsch und Koźlik an der Śvisłać, bzw. Alexander Sergejewitsch und Onegin an der Newa. Quelle: Wikimedia Commons

„Er war so kühn, an mich zu schreiben. Umfinstert von Sibiriens Erz.“ Mit diesen geliehenen Worten lässt Oleg Olegowitsch den aufdringlichen Koźlik auflaufen. Der erste Satz ist die leicht abgewandelte Anfangszeile von Tatjanas berühmtem Brief an Onegin, die jeder russischsprachige Leser sofort erkennen wird. In der Übersetzung des Puschkin-Poems von Theodor Commichau lautet die Passage (Drittes Kapitel, XXXI): „Ich bin so kühn, an Sie zu schreiben – / Ach, braucht es mehr als dies allein? / Nun wird gewiss – was soll mir bleiben? – / Verachtung meine Strafe sein.“ Auch Koźlik muss ja die Verachtung des Meisters auf seinen Vorstoß hin fürchten. So weit, so gut. Der zweite Satz ist bei Bacharevič ebenfalls ein kanonischer Puschkinvers, die zweite Zeile aus dessen Gedicht Зимний вечер (Winterabend, 1827). Michael Engelhard übersetzt: „Stürme durch den Himmel eilen, / Wirbelnd jagt der Schnee den Wind; / Heult bald so wie Wölfe heulen, / Und bald weint er wie ein Kind […]“ (vgl. Rolf-Dietrich Keil (Hg.): Alexander Puschkin. Die Gedichte. Insel 1999, S. 505). Das verbindet sich im Deutschen nicht recht mit dem ersten Zitat. Kein deutscher Leser wird zudem in „wirbelnd jagt der Schnee den Wind“ ein Puschkin-Zitat erkennen, nicht einmal als Vers ist dieser Halbsatz einwandfrei zu identifizieren. Was also tun? Vergleichbare Zeilen unter deutschen Zeitgenossen Puschkins suchen, die für ein deutsches Lesepublikum leichter zu erkennen und einzuordnen sind?

aus Joseph von Eichendorffs Winternacht (Verschneit liegt rings die ganze Welt …): „Der Wind nur geht bei stiller Nacht / und rüttelt an dem Baume, / da rührt er seinen Wipfel sacht / und redet wie im Traume“
aus Sehnsucht nach dem Frühling von Heinrich Hofmann von Fallersleben: „O wie ist es kalt geworden / und so traurig, öd‘ und leer! / Rauhe Winde wehn von Norden, / und die Sonne scheint nicht mehr.“ Problematisch wird es aber in jedem Fall mit dem Anschluss, da der Erzähler bei Bacharevič fragt, warum Koźlik ihn auf Russisch anredet. Also wieder zurück auf Los. Um hier Plausibilität herzustellen, wurde letztlich auf ein anderes berühmtes Puschkingedicht zurückgegriffen: Во глубине сибирских руд (1827) bzw. nach Michael Engelhard (a.a.O., S. 569): „Umfinstert von Sibiriens Erz …“ Das Stichwort „Sibirien“ baut für deutsche Leser die Brücke zum Russischen, Wortwahl und Satzbau machen die Zeile zudem sofort als Zitat kenntlich, zumal sie das Metrum der ersten Zeile aufnimmt.

Autofiktion und Mystifikation

„Verzeihung, sind Sie … sind Sie nicht Bacharevič? “ In Teil IV von Europas Hunde hat das Autorenpaar Alhierd Bacharevič und Julia Cimafiejeva einen Cameo-Auftritt. Aber auch vorher schon werden immer wieder autobiographische Spuren gelegt. Bereits auf der ersten Seite des Romans erscheinen die „Fliegenmilchdörfer“ im Text. In seinem 2016 entstandenen Essay Fliegen in der Milch (deutsch in: Berlin, Paris und das Dorf. edition.fotoTAPETA 2019, S. 9–24) wird das Kindheitserlebnis des Stadtjungen eindrucksvoll ausgebreitet: „Das Einmachglas mit der Milch stand auf dem Tisch mit der hier und da eingeschnittenen Wachstuchdecke. Oben auf der Milch schwammen drei oder vier schwarze Punkte. Ich ging näher heran und schaute in das Glas. Das waren Fliegen. Die schwarzen Fliegen schwammen auf der Milch wie Buchstaben auf einem weißen Bogen Papier.“ Inzwischen ist der Essay nahezu unverändert auch in den autobiographischen Band Хлопчык і сьнег (Der Junge und der Schnee) eingegangen, der 2023 bei Knihaŭka erschien. Aber das Motiv findet sich schon viel früher. Bereits im Roman Die Elster auf dem Galgen (Leipziger Literaturverlag 2010, S. 16) schwimmen die Fliegen in der Milch. Und sie tun es noch im 2021 entstandenen Gedicht Anaemia patriotae im Lyrikband Вершы/Vieršy (Viasna 2022, S. 47). Zuerst erschien Fliegen in der Milch im Band Potemkinsche Dörfer der Idylle (Transcript 2018). Die Umschlagabbildung (versteinerte Gänse!) stammt aus der Fotoserie „Blau“ von Julia Cimafiejeva.

Ebenfalls in Teil IV begegnet der Tütenmensch (homo paceticus) seiner ehemaligen Schülerin und erinnert sich, wie er „einmal auf ihrer Schläfe seinen stachligen Kuss hinterlassen hat.“ Das Urbild dieser Szene ist in Bacharevičs Мае дзевяностыя (Meine Neunziger, Januškievič 2018, S. 260) nachzulesen. Auch die Nöte des Lehrers in Teil V des Romans sind sichtlich von den Erfahrungen des Junglehrers Aleh Ivanavič Bacharevič Ende der 90er inspiriert. Es doppelgängert also gewaltig. Spiegelungen und Wiedergänger sind auch zentral in Alexej Tolstois Geheimnisvolle Strahlen, in Wladislaw Chodassewitschs Gedicht Vor dem Spiegel und natürlich in Nabokovs Verzweiflung, die allesamt im Romantext präsent sind. Überhaupt, Nabokov: Dass Koźlik in Teil I gerade den Dreitausendseiter Quercus liest, Nils in Teil IV in der Berliner Agamemnonstraße arbeitet und der Zugreisende in Teil VI auf dem Weg nach Prag einen gewissen Fulmerford (oder Fulmerfold?) erwähnt, spricht für sich. Und ist der gealterte Nabokov mit dem Schmetterlingsnetz nicht ein Wiedergänger des jungen Nils Holgersson, der mit dem Fliegennetz das Wichtelmännchen zu fangen versucht? Bacharevič war übrigens zeitweise Stipendiat am Pariser Centre International d’Accueil et d’Échanges des Récollets und lebte in Minsk in der vulica Siadych. Aufgewachsen ist er im Stadtteil Drashnja in der vulica Tajoshnaja. In Der Junge und der Schnee notiert er über den Moment, da er nach seiner Entlassung aus der Geburtsklinik erstmals im Taxi dort vorfährt: „Von jenseits des Zaunes kam Hundegebell.“

Musikalisch-Filmisches

Filme, Musik und Filmmusik spielen auch in diesem Bacharevič-Text eine Rolle: Der Brillanten-Arm (Бриллиантовая рука, 1969), Der Gast aus der Zukunft (Гостья из будущего, 1985), Zeilen aus dem Repertoire der Pesnjary oder von Sjabry … In Teil IV würde der Protagonist mit der Plastiktüte im überfüllten Kleinbus nach Minsk gerne mit den anderen Fahrgästen The Passenger grölen, den alten Hit von Iggy Pop und Ricky Gardiner. Der russische Filmregisseur Kirill Serebrennikow setzte Bacharevičs Idee um und legte das Lied in seinem Film Leto (2018), einer Hommage an Viktor Zoi und die legendäre Band KINO (ehemals Garin und die Hyperboloiden), den Passagieren eines Leningrader Trolleybusses in den 1980er Jahren in den Mund.

Damit ist der Tütenmensch denkbar weit entfernt von seinen Mitfahrern und der Musik aus dem Mantel-und-Degen-Film Gardemariny, wperjod! (Gardemarine, vorwärts! Mosfilm 1988).

In der folgenden Beschreibung des Tütenmenschen findet sich ein musikalischer Verweis ganz anderer Art: „Das Gesicht gebräunt, ungewaschen, glücklich, graue Stoppeln tummeln sich um die Augen, auf dem Kopf Chaos statt Musik, spärliche widerspenstige Haare.“ Mit „Chaos statt Musik“ („Сумбур вместо музыки“) war in der Prawda vom 28. Januar 1936 ein folgenreicher Verriss der Schostakowitsch-Oper Lady Macbeth von Mzensk überschrieben.

Das Hasenlied (Песня про зайцев), das die Hochzeitsgäste in Teil IV vom Tütenmenschen hören wollen, entstammt der sowjetischen Gaunerkomödie Der Brillanten-Arm von 1968. Auch in Teil II wird schon auf diesen Kultfilm angespielt, als der schwanengleiche Major Lebed daraus zitiert. Kurz darauf bemüht er noch ein geflügeltes Wort aus dem sowjetischen Fünfteiler Die schwarze Katze (Место встречи изменить нельзя, 1979), das Wladimir Wyssozki in seiner Rolle als Kriminalhauptmann Gleb Sheglow geprägt hat: „Und jetzt der Bucklige!“

Diesen Buckligen, den Kopf einer berüchtigten Bande, verkörperte Armen Dschigarchanjan (1935–2020), ein armenisch-sowjetischer Schauspieler, der auch in Bacharevičs Gedicht Kampfkunst noch einmal Erwähnung findet. Dass Bacharevič nicht wahllos, sondern mit Bedacht in die Zitatekiste greift, veranschaulicht beispielsweise die Szene in Teil VI, in der Matti Marttinen mit einer Flasche niedergeschlagen wird. Eben schwärmt Skimas bartloser Doppelgänger noch von Siebzehn Augenblicke des Frühlings, einem sowjetischen Fernseh-Zwölfteiler aus dem Jahr 1973, dann muss er selbst eine Szene daraus durchleben. In Serie 8, Minute 19, setzt SS-Standartenführer Max Otto von Stierlitz (alias Maxim Issajew) Obersturmbannführer Ferdinand Holtoff mit einer Kognakflasche außer Gefecht.

Clemens J. Setz eröffnete mit Die Bienen und das Unsichtbare einen schönen Zugang zum Balbuta-Thema, vgl. das eingangs angeführte Zitat in diesem Fußnotentext. In seinen Roman Monde vor der Landung (Suhrkamp 2023) ragt wiederum ein tröstliches Fädchen hinein, das Bacharevič bzw. sein Sprachenerfinder Oleg Olegowitsch in Europas Hunde liegen ließ:

Seite 21

Sein Ende lugt aus der leicht geöffneten Schublade des leeren Tisches. Gott allein weiß, wie es hierhergeraten ist, das blaue Fädchen, das sich an einem Nagel in der Holzschublade verhakt hat. Behutsam, damit das unscheinbare blaue Schwänzchen nicht abreißt, befreie ich es, ziehe es ab und wickle es mir um den Zeigefinger. Dann wickle ich es wieder ab. Und wieder auf. Es ist so lang wie meine Hand. Das Spiel fesselt mich. Ich denke nun nicht mehr an Wörter. Ich spiele mit meinem Fadenfreund, und ein anderer, der uns nicht länger zusehen möchte, räuspert sich und beginnt zu sprechen …

Setz lässt uns auf Seite 353 seinem Protagonisten Peter Bender im Dezember 1935 in die Frankfurter Universitäts-Nervenklinik folgen:

Ein alter Mann namens Hans, der hier eingesperrt war, weil er niemanden mehr erkannte, kam langsam durch den Korridor geschlendert. Er war unterwegs zu seiner ‚Schnur-Schnur‘, wie er es nannte: ein längerer Faden, der zufällig aus dem Scharnier einer Tür herausragte. Mit diesem Faden beschäftigte er sich jeden Tag über mehrere Stunden. [Es folgt ein Einschub, in dem Bender sich mit den anderen Insassen der Nervenanstalt in ein ernsthaftes Gespräch begibt. Josef wird eingeführt, ein Esperantolehrer aus Graz, der ‚in unüberwachten Geistesmomenten einige Stellen aus der Heiligen Schrift auswendig in seine bolschewistische Fantasiesprache übertrug.‘] So ging der Abend hin, und Hans spielte mit seinem Freund, dem Faden.

Thomas Weiler

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Alhierd Bacharevič. Posted in Alhierd Bacharevič: „Europas Hunde“Tagged Alhierd Bacharevič, Belarus, Belarussische Autoren, Thomas Weiler

Viktor Martinowitsch: „Revolution“, Übersetzung: Thomas Weiler

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Thomas Weiler über die Fußnoten in der „Revolution“

Wille zur Ohnmacht?

Wenn Anfang 2021 der Roman eines belarussischen Autors mit dem Titel Revolution erscheint, ist Vorsicht geboten. Gleich vorab: Es geht hier nicht um die friedliche Revolution, die seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 die Menschen in Belarus auf die Straße treibt. Die literarische Verarbeitung dieser Tage wird noch einige Zeit auf sich warten lassen.

Viktor Martinowitsch trägt seinen Revolutionsstoff seit 2009 mit sich herum, 2017 hat er das Manuskript während eines Aufenthalts in Zürich abgeschlossen. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung erscheint noch vor dem russischen Original etwa zeitgleich mit der belarussischen Übersetzung von Vital Ryžkoŭ. Interpretationen und Rezensionen des Textes liegen noch nicht vor, der Übersetzer ist also bei seiner Arbeit ganz allein mit dem Text. Eine Position der Ohnmacht?

Der Autor nimmt in seinem Roman den Willen zur Macht in den Blick und betrachtet ihn von der anderen Seite. Sein Protagonist, zugleich der Ich-Erzähler, bringt den Willen zum Gehorsam, zur Fügung mit und wird damit für die Mächtigen und ihre manipulatorischen Eingriffe zu einer interessanten Figur. Ist der Wille zur Ohnmacht nicht auch für Übersetzer eine conditio sine qua non? Unterwerfen sie sich nicht professionell dem jeweiligen Original und suchen ihr Heil in der Fügung?

Felicitas Hoppe gab ihrer eindrucksvollen Lobrede auf das Übersetzen zum 20-jährigen Bestehen des Deutschen Übersetzerfonds 2017 den vielleicht überraschenden Titel „Vom mächtigsten Handwerk der Welt“ und bekannte, sie habe „einen geradezu höllischen Respekt vor Übersetzerinnen und Übersetzern […], eine Mischung aus Ehrfurcht, Achtung und Angst“. Da das manchen Lesern ähnlich ergehen mag, will der Übersetzer hier Einblicke in sein Tun geben, dunkle Hintergründe aufhellen und Transparenzen erzeugen.

Viktor Martinowitsch - Revolution

Der Erzähler beschreibt im Text Details der Einbandgestaltung und nimmt damit Einfluss auf den Gestaltungsspielraum des Grafikers. Wille zur Macht?

Seite 22

Sobald man den Motor anließ, krächzte das Radio los, durch das weiße Rauschen drang eine kratzige Stimme: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm«, du klatschtest in die Hände und sagtest: »Ja, Wahnsinn! Das ist doch Rosenbaum!« Nachdem wir Alexander Rosenbaum dreimal beidseitig angehört hatten (Autoreverse hatte dieses Wunder sowjetischer Technik nicht), wollten wir den Chansonnier aus dem Kassettenfach befreien.

Dieser Klassiker des Liedermachers Alexander Rosenbaum erschien zuerst 1987 auf dem Album Moi dvori, er ist hier nachzuhören. Das weiße Rauschen und die unvergleichliche Shiguli-Akustik denke man sich bitte dazu.

Seite 47

Und der Reporter sprach von »Entsagung«, von »Selbstlosigkeit« und den »stillen Freuden des Lebens«, und es war schon zu spüren, dass sein kulturelles Niveau ihm den Vergleich regelrecht aufzwang: den Vergleich (die anderen wissen’s ja nicht!) des »heroischen« Machtverzichts des Alten mit der Geschichte, die der Schlosser Goscha im Film Moskau glaubt den Tränen nicht erzählt, vom römischen Kaiser Diokletian, der auf den Thron verzichtet und sich in die Landwirtschaft zurückzieht. Und als Diokletian gefragt wurde, warum er abgetreten sei, (hier hob Goscha die Stimme, wie vor der Pointe eines guten Witzes, damit auch alle lachten), antwortete er: »Ihr müsstet mal sehen, was bei mir für Kohlköpfe wachsen!«

Moskva slezam ne verit (1980) erhielt einen Oscar als bester ausländischer Film. Aber wohl nicht wegen der Diokletian-Szene, die man sich hier anschauen kann. Goscha wird verkörpert von Alexej Batalow.

Seite 68f.

Ich wandte mich um, starrte ihn an, prägte ihn mir ein. Da war er, einer der großzügigen »Freunde«. Langhaarig, dunkel, mit sprießendem Backenbart auf den Wangen. So ein richtiger Onegin, wobei ich mir, was Onegins Backenbart angeht, alles andere als sicher bin. Man könnte ihn auch Fandorin nennen, dann hätte die breite Masse sein Bild deutlicher vor Augen. Für diese Masse ist heute Fandorin ursprünglicher als Onegin – eine hässliche Semiose unserer verfälschten Zeit.

Ob Jewgeni Onegin Backenbart trug, geht aus dem Versroman Alexander Puschkins nicht hervor, der Verfasser selbst war aber berühmt für seine bakenbárdy. Und Onegindarsteller wurden in mehreren Verfilmungen mit Backenbart ausgestattet, Ralph Fiennes darf in Onegin (1999) immerhin Koteletten tragen.

Seite 98

An der Anspannung, die seinen ganzen Körper erfasste, sobald er sich nach rechts neigte, an der Art und Weise, wie er mit der freien Hand seine rechte Flanke hielt und schützte und an den unsicheren Bewegungen dieses schlaffen, verzögerten Arms, den er scheinbar nur bis zu einem bestimmten Punkt anheben konnte, las ich ab, dass dort etwas nicht in Ordnung war, irgendwo auf Bauch- oder Brusthöhe. […] Wir hatten vielleicht zehn Schritte geschafft, da tauchte neben uns eine Patrouille auf, und mein Begleiter wollte den Schwarzen Raben anstimmen, stockte aber, schnappte nach Luft, mir fiel auf, dass er extrem schnell atmete, offenbar ein traumatischer Schock.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Iwan Arkadjewitsch in dieser Situation ausgerechnet der Schwarze Rabe (Čorny voron) in den Sinn kam. Das Lied handelt von einem sterbenden Soldaten, über dem schon der schwarze Rabe kreist. Die tödliche Wunde bedeckt er mit einem Tuch und singt dem Raben zu: Nimm das Tuch, das blutgetränkte, / trag’s zu meiner Liebsten heim. / Sage ihr, sie wird nun frei sein, / Eine andre sei nun mein. (Nachdichtung: Margit Bluhm). Diese andre ist, je nach Version, ein (im Russischen weiblicher) Säbel oder eine Kugel. Hier wird also schon vorweggenommen, wie es um Iwan Arkadjewitsch bestellt ist und wie es mit ihm zu Ende gehen wird. Die Schlusszeilen lauten: Schon seh‘ meinen Tod ich nahen – / schwarzer Rabe, ich bin dein!

Hier ist das Lied zu hören in einer Version von Boris Grebenschtschikow.

Seite 227

An einem ungewöhnlich heißen Tag im Mai erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer. Der eine, etwa vierzig Jahre alt, trug einen mausgrauen Sommeranzug, war von kleinem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt und hatte eine Glatze; seinen gediegenen Hut hielt er wie ein Brötchen in der Hand, eine überdimensionale schwarze Hornbrille zierte das glattrasierte Gesicht. Der andere, breitschultrig, mittelgroß, leicht gebeugt, mit dem hageren und nachdenklichen Gesicht eines Genies, war ich.

Martinowitsch bedient sich hier bei den Anfangssätzen aus Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita (Master i Margarita). Auf Deutsch liegen Übersetzungen der Kollegen Thomas Reschke und Alexander Nitzberg vor, die sich vor allem syntaktisch massiv voneinander unterscheiden. Welche passt hier besser? In der Abbildung liegen beide nebeneinander.

Sofort ins Auge fällt einem bei Reschke (links) das sonderbare Brötchen in Zeile 5. Bei Nitzberg hielt Berlioz den Hut „zusammengedrückt in der Falte“. Das Bild wird klar. Nur greift Martinowitsch Bulgakows offensichtlich auch für russische Ohren wunderliche Formulierung wenige Sätze später noch einmal auf. Deshalb habe ich entschieden, das ältere Reschke-Brötchen zu übernehmen. Nitzberg führt zu dieser Stelle in seinen Notizen unter der Überschrift „Problematisches und Gescheitertes“ übrigens aus: „Wörtlich heißt es, er halte „seinen anständigen Hut als Pirogge in der Hand“. Die Ablativ-Konstruktion „als Pirogge“ (pirožkom) ist keine Metapher, sondern ein Idiom und bedeutet, dass der Hut eine Falte hat. Daneben existiert aber auch eine Pelzmütze, die im Nominativ als „Pirogge“ (pirožok) bezeichnet wird. Und obwohl Bulgakow in seiner Beschreibung die Ablativ-Form verwendet und somit eindeutig von einem Hut spricht, schwebt ihm offenbar gleichzeitig irgendwie auch die Pelzmütze vor, denn gerade sie ist eine beliebte Kopfbedeckung, ja ein Statussymbol der Sowjet-Elite. Freilich würde Berlioz an einem der heißesten Tage des Jahres wohl kaum eine Pelzmütze tragen.“ (Alexander Nitzberg: Ein Buch mit sieben Buckeln. Notizen des Übersetzers. In: Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Berlin: Galiani 2012 [563-582] S. 579)

Seite 229

Philipp sagte, ich müsste binnen 48 Stunden ein Gutachten zusammenschreiben, dass dieses Häuschen nicht als Architekturdenkmal gelten könne, entgegen den anders lautenden drei Gutachten von 1937, 1976 und 1985.

»Was du dir einfallen lässt, ist dein Ding. Du unterschreibst mit deinen kompletten Regalien: Professor, Dekan, Vitzliputzli«, trug er mir auf. »Schreib schön künstlerisch, anstelle dieser Bruchbude soll in einem halben Jahr ein zwanzigstöckiger Office Tower stehen.«

»Kostenpunkt«, ergänzte er nach einer Pause, »202 Limonen. Du weißt, was du zu tun hast, hübsch mit Gefühl, mit Sinn und mit Betonung.«

Auf Russisch sagt Philipp: „professor, dekan, chury mury“. Letzteres ist ein salopper lautmalerischer Ausdruck, der Philipps Geringschätzigkeit für den ganzen akademischen Zauber zum Ausdruck bringt. Ich fand „Vitzliputzli“ als Entsprechung ganz passend. Und habe später beim Wiederlesen von Bulgakows Meister und Margarita in der Anfangsszene unmittelbar vor dem ersten Auftauchen Volands den Satz entdeckt: „Und just in dem Augenblick, in dem Michail Alexandrowitsch dem Dichter über Vitzliputzli erzählte und wie dieser von den Azteken aus Teig geknetet worden war, zeigte sich in der Allee der erste Mensch.“ (Übersetzung Alexander Nitzberg, S. 13). Höchst sonderbar, was in Übersetzergehirnen bisweilen vorgeht …

Quelle: Wikimedia Commons

Mit der Wendung „mit Gefühl, mit Sinn und mit Betonung“ zitiert Philipp, vermutlich ohne sich der Quelle bewusst zu sein, aus Alexander Gribojedows Komödie Gore ot uma (1824).Auch hier mussten verschiedene Übersetzungen ins Deutsche gewälzt werden, bis eine in diesem Kontext passende gefunden war, die durch Metrum und den Dreischritt als Zitat erkennbar wird (Geist bringt Kummer, Übers. Johannes von Guenther. Berlin: Aufbau 1948, S. 33). In der Übertragung von Dr. Bertram [Georg Julius von Schultz] (Verstand schafft Leiden, Brockhaus 1853) lauteten die betreffenden Zeilen: „Lies mit Gefühl, Verstand, und dann und wann / Bei Punct und Komma halte an.“

Arthur Luther übersetzte 1922: „Nimm den Kalender von der Wand / und lies mit Ausdruck und Verstand“ (Leipzig: Reclam 1963). In der jüngsten Übersetzung von Peter Urban (Wehe dem Verstand. Berlin: Friedenauer Presse 2004) stand zu lesen: „Und lies nicht wie ein Küster vor, / Lies mit Gefühl, Verstand, mit Pausen.“

Seite 252f.

»Wollen wir anstoßen? Ich hab Champagner kalt gestellt.« Und rasch zur Tür, das Schnappschloss zweimal umgedreht, der Herr Prorektor ist im Aktenstudium. Mit seiner Sekretärin. Und aus dem geheimen Schränkchen hinter dem Gemälde (eine Kuindshi-Reproduktion, geschmacklos, weg damit) die langstieligen Gläser und eine Flasche Veuve Clicquot. Wie gekonnt du den Champagner entkorkst, Anna!

Der russische Landschaftsmaler Archip Kuindshi (1842?–1910) ist häufiger mal ins (für heutige Verhältnisse) Kitschige abgedriftet. Etwa bei seinem Regenbogen, der im Russischen Museum in Sankt-Petersburg prangt.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 298

»In seinen Ausführungen zum Wesen des Verhältnisses von Es und Über-Ich verwendet Freud das Bild von Pferd und Reiter, in dem das Pferd dem Es entspricht und der Reiter dem Über-Ich. Ohne die unbedachte Kraft des Pferdes gäbe es keine Energie zur Fortbewegung. Aber nur das Über-Ich vermag diese Energie zu zügeln und sie in die richtigen Bahnen zu lenken.«

Hier irrt Batja (oder Martinowitsch? Oder German?). Freud spricht in seiner 31. Vorlesung Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit von Pferd und Reiter nur im Zusammenhang mit Ich und Es, das Über-Ich hat hier eigentlich nichts verloren: „Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten.“ (Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 107f.)

Auf dem Foto von 1922 ist Freud mit Herbert Graf zu sehen.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 307

Und dann lief auch noch Björk – du magst sie ja, mir ist sie zu chaotisch – erst dieses lange Akkordeon-Intro, dann die Bläser und dann sang sie, so leidend und verloren, und schon wieder dieses Wort: »I miss you, but I haven’t met you yet.«

Der Björk-Song stammt aus dem Album Post (1995). Interessant ist die inhaltliche Parallele zu einem Satz, den der Meister im Gespräch mit Besdomny über Margarita äußert: „Sie pflegte übrigens später zu sagen […], wir hätten einander schon seit langem geliebt, ohne uns zu kennen, ohne uns je gesehen zu haben.“ (Übersetzung Thomas Reschke)

Als Übersetzer hat man ständig Angst, irgendwelche Verweise zu übersehen. Deshalb erkennt man irgendwann überall Bezüge. Ob der Autor sie auch gesehen hat?

Seite 312

Ich las und las und folgte den Textpfaden immer tiefer in die Historie hinein, ich wusste, was Cäsar nach dem ersten Schwerthieb auf seinen Kopf gesagt hatte (gefunden bei Plutarch), wusste, wie Paul gekrächzt hatte, als sie ihn erdrosselten, aber vor allem wurde mir immer klarer, was diesen Todesstößen und Erdrosselungen vorausgehen musste.

Hier hat der Protagonist seinen Plutarch offenbar nicht gründlich genug gelesen. Der erste Streich war, zumindest nach Plutarch, kein Schwerthieb auf Cäsars Kopf, sondern ein verunglückter Dolchstoß gegen den Hals bzw. ein Degenstich ins Genick, woraufhin Cäsar Publius Servilius Casca Longus fragte: „Verruchter Casca, was beginnst du?“ So in Des Plutarchus von Chäroneia vergleichende Lebensbeschreibungen in der Übersetzung aus dem Griechischen von Johann Friedrich Salomon Kaltwasser, Magdeburg: Keil 1803, S. 126.

In Karl Theodor von Pilotys Gemälde Cäsars Ermordung (um 1865) ist Casca mit gezückter Waffe zu sehen. Auch dort eher in Stoß- als in Schlaghaltung.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 340

In der Zauberstadt, die mich in meinen Träumen immer noch verfolgt, gibt es zwei ebensolche Türme, geziert von finsteren Soldaten-, Arbeiter- und Bauernfiguren. Das symbolische Tor gibt, indem es sich auftut in jener sonnenbeglänzten, menschenleeren, verängstigten Stadt, den Weg in die Uliza Kirowa frei, ihm gegenüber liegt der riesige Bahnhof.

Der Minsker Bahnhofsvorplatz mit den beiden Tortürmen (rechts im Bild das verglaste Bahnhofsgebäude) hat auch in Martinowitschs Debütroman Paranoia schon einen Auftritt:

Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Roland

„In der Glasfront vor mir spiegelten sich die beiden wuchtigen Türme des Stadttores, und ich drehte mich tatsächlich um, da mir unbegreiflich war, wie dieser Riesenbau dort hinter meinen Rücken geraten war, wo doch der Wartesaal sein musste. Aber ich sah nur die Rolltreppe, eine Frau an der Kaffeemelkmaschine und ein paar zufällige Gestalten, in denen dich erkennen zu wollen einfach dämlich war. Da wurde mir klar, dass die Tortürme kein Spiegelbild waren, sondern sich jenseits der Glasfront befanden, vor der ich stand, und als ich mich selbst irgendwo auf Höhe des fünften Stocks erblickte, war ich völlig verwirrt.“ (Paranoia, S. 248)

Zum Vergleich die Türme am Moskauer Gagarin-Platz:

Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Gennady Grachev

Seite 385

Du, Olessja Lessenko, für die ich diese Revolution gemacht habe, arbeitest in einem Bliny-Lokal auf der anderen Seite der Uliza Malaja Morskaja, und aus dem Fenster deines Lokals ist der Isaak zu sehen.

Um noch mal auf den gärtnernden Diokletian zurückzukommen: Kohlernte auf dem Platz vor der Isaakskathedrale während der Blockade Leningrads im Herbst 1942.

Quelle: Wikimedia Commons

Thomas Weiler

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.