Georgien

Ein Brief von Rachel Gratzfeld aus Tbilissi

Lieber Leif,

danke für die liebe Nachfrage. Mir persönlich geht es gut, auch wenn einem inmitten des weltumspannenden Wahnsinns Lebenslust und -freude abhanden kommen könnten. Die Proteste hier gehen weiter; der Januar wird ein entscheidender Monat, da die Pseudo-Regierung ja von Trumps Inauguration Positives für sich erwartet, aber ich glaube, da haben sie sich geschnitten. Trump wird sich wohl kaum gleich mit dem kleinen Georgien befassen.

Jedenfalls lassen sich die Menschen hier überhaupt nicht unterkriegen, der Widerstand wird weitergehen, das Regime sich weiter isolieren, es wird bestimmt eine Wirtschaftskrise geben, und wahrscheinlich wird Georgien weitgehend auf sich gestellt aus dem Schlamassel herausfinden müssen. Ich bin aber relativ zuversichtlich, denn bei den Menschen auf der Straße ist so viel Kraft, Kreativität, Mitmenschlichkeit, Standhaftigkeit spürbar, dass es gar nicht anders sein kann, als dass sich alles zum Guten wendet, sprich zu Neuwahlen und Freilassung der mittlerweile Hunderten Verhafteten. Jedoch braucht es bestimmt bis in den Sommer hinein noch Geduld und Ausdauer.

Was das Funktionieren einer neuen (Koalitions-)Regierung angeht, steht dann auf einem anderen Blatt … Im Moment gibt es nichts anderes, als weiter auf die Straße zu gehen; außerdem sind diese friedlichen Demos immer wahres Balsam für die Seele, wirken extrem stärkend und bestärkend. Für den 15. Januar ist ein allgemeiner Warnstreik angesagt; ein Streikrecht gibt es in Georgien eigentlich nicht, Streikende und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die sich gegen die Regierung äußern, riskieren die Entlassung, Hunderte sind bereits entlassen worden …

Ja, in deutschsprachigen Medien ist tatsächlich nicht besonders viel zu lesen, dazu wird oft der Regime-Sprech verbreitet. Ich empfehle für News aus Georgien https://civil.ge/ , https://oc-media.org/news/ und https://voxeurop.eu/en/ . Bei Letzterem ist übrigens ein wunderbarer Artikel zur Ukraine erschienen, der aber allgemeine Gültigkeit hat: https://voxeurop.eu/en/ukraine-sacrifice-simas-celutka/.

Was ihr für uns tun könnt? Schwierig, außer versuchen, Sichtweisen zurechtzurücken; erschreckenderweise sind bei vielen Deutschen Verständnis und Sympathien für den »Georgischen Traum« zu finden in vollkommener Verkennung der katastrophalen neuen Gesetzeslage, der Verfassungsverletzungen, der Polizeigewalt gegen Zivilgesellschaft und JournalistInnen usw. Was die Literatur angeht: Das Schriftstellerhaus, das früher georgische Literatur vermittelt und Übersetzungen gefördert hat, steht seit anderthalb Jahren unter neuer Leitung und fest auf der Seite des »Georgischen Traum« und wird von Verlagen und AutorInnen boykottiert. Überhaupt befinden sich alle Kulturbranchen im Boykott- und Streikzustand, die Kulturschaffenden sind nur noch auf der Straße (oder in Haft).

Ich mach jetzt Schluss, ist wohl etwas wirr geworden der Brief, aber sind ja auch wirre Zeiten.

Ich wünsche dir und dem Verlag von Herzen Erfolg und viele Freuden im neuen Jahr.

Rachel