Bonusmaterial zu Francis Neniks »Der Gescheite(rte) Kalender«. Hier geht’s zum Kalender
Wenn man „1984“ sagt, denken alle an George Orwell, aber niemand denkt an Sekundenkleber. Dabei ist es sein Jahr! Zumindest politisch gesehen, denn 1984 wird der Sekundenkleber erstmals für eine kollektive Festleimaktion eingesetzt. Dabei ist er zu diesem Zeitpunkt bereits seit 26 Jahren auf dem Markt und schon bei allen denkbaren – und auch bei allen undenkbaren – Gelegenheiten verwendet worden. Nur festgeklebt hat sich damit noch niemand. Zumindest nicht aus politischen Gründen.
Zeit, die Geschichte vor diesem Tag zu erzählen.
Wie viele Produkte ist auch der Sekundenkleber ein Kind des Krieges. Die Geschichte beginnt im Jahr 1942, als die chemischen Forschungslabore von Eastman Kodak vom US-Militär den Auftrag erhalten, Linsen für Präzisions-Zielfernrohre zu entwickeln. Einer, der dabei mithelfen soll, ist Harry Coover, ein junger Chemiker, der als 16-jähriger ein schweres Zugunglück überlebt und dabei alle Erinnerungen an seine Kindheit ausgelöscht hat. Coover experimentiert mit durchsichtigen Kunststoffen. Genauer gesagt mit einer von ihm eher zufällig entdeckten Verbindung namens Cyanacrylat. Die optischen Eigenschaften sind vielversprechend, aber das Cyanacrylat hat ein Problem:
Es ist extrem klebrig.
Was immer damit in Berührung kommt, bleibt daran haften und lässt sich nur mit roher Gewalt oder dem Einsatz chemischer Mittel lösen. Nicht gerade ideal für Augen, die sich an ein Zielfernrohr pressen.
Da alle Versuche, das Cyanacrylat zu verarbeiten, scheitern, gibt Coover seine Exprimente mit dem Stoff auf und kümmert sich nicht weiter darum. Auch sonst vergessen alle bei Eastman Kodak das Cyanacrylat, und zwar so sehr, dass der Gründer der Forschungslabore, der britisch-amerikanische Physiker und Fotograf Charles Edward Mees, das Cyanacrylat mit keinem Wort erwähnt, als er 1948 einen langen Text über die Geschichte der Labore für die Royal Society in London verfasst. Er ist freilich nicht der Einzige, der nicht weiß, was er verpasst. Ein Jahr zuvor, im Mai 1947, hatte die Goodrich Company – ein Unternehmen, das eigentlich Reifen, Radios und Riesenluftschiffe herstellt, während des Krieges aber ebenfalls an der Entwicklung von Waffen beteiligt war – ein Patent auf Cyanacrylat angemeldet. Die klebrigen Eigenschaften des Stoffes werden in der Patentanmeldung allerdings mit keiner Silbe erwähnt. Stattdessen, so heißt es, ist die Substanz „äußerst nützlich für die Herstellung harter, klarer, glasartiger Harze.“
Hart, klar und glasartig müssen auch die Kabinenhauben für die neuen Düsenflugzeuge sein, die ab den 1940er Jahren entwickelt werden. Die bisher bei Propellerflugzeugen benutzten Glasdächer machen’s nicht mehr, denn sind nicht hitze- und druckbeständig genug für die brutalen Kräfte der Jets. Auch bei Eastman Kodak suchen sie nach einem geeigneten Material für die Hauben, und wieder ist Harry Coover dabei. 1951 leitet er die Entwicklungsabteilung von Eastman Chemical in Tennessee. Als einer von Coovers Mitarbeitern bei einem Materialtest einen feinen Film Ethyl-Cyanacrylat zwischen den Prismen eines Refraktometers verteilt, um die optischen Eigenschaften des Stoffs zu untersuchen, bekommt er die Prismen danach nicht mehr auseinander. Er geht zur Coover und meldet reumütig, dass er soeben Material im Wert von 700 Dollar ruiniert hat. Doch Coover ist alles andere als böse. Zumindest erinnert er sich später an einen glückseligen Heureka-Moment: „Alle Bedenken, die ich wegen des Refraktometers hatte, wurden weggespült von der plötzlichen Erkenntnis, dass es sich nicht um eine nutzlose Substanz, sondern um einen einzigartigen Klebstoff handelte. Eine glückliche Fügung hatte mir eine zweite Chance gegeben.“
In den nächsten Jahren sind Coover und seine Mitarbeiter damit beschäftigt, die Funktionsweise des Klebers im Detail zu verstehen und die chemischen Komponenten so zu verfeinern, dass aus der Laborkuriosität ein marktreifes Produkt wird. Am 5. November 1958 ist es soweit. Auf einer Pressekonferenz in New York wird der Superkleber offiziell vorgestellt. Er trägt den Namen „Eastman 910“ und ist – wie die Kingsport Times am 7. November 1958 meldet – „der erste Klebstoff, der hochfeste Verbindungen zwischen praktisch allen Materialkombinationen herstellt, ohne dass übermäßiger Druck, Hitze, Lösungsmittelverdampfung oder lange Aushärtungszeiten erforderlich sind.“ Allerdings ist der Sekundenkleber erstmal nur für industrielle Anwender erhältlich, und Harry Coover erinnert sich genau, wer ganz vorn in der Bestellreihe stand: „Unser erster Verkauf ging an Mason & Hanger für den Montageauftrag in einer Atombombe.“
Wer hätte das gedacht – der Sekundenkleber leimt die Waffen für den Kalten Krieg zusammen!? Aber so läuft das nunmal: die Komponenten der nuklearen Gefechtsköpfe werden verklebt. (Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung, die später als erste den Sekundenkleber auf der politischen Bühne einsetzen wird, mit demselben Kleber gegen die Atomwaffen protestiert, mit denen diese zusammengeleimt sind.) Auch Raketentriebwerke kommen ohne Sekundenkleber bald nicht mehr aus. Besonders jene, die für den Antrieb feste Treibstoffe nutzen, denn mit Hilfe des Klebers lässt sich der Festtreibstoff wunderbar mit der Auskleidung der Brennkammer verbinden. Das erhöht zwar nicht die Sicherheit des Planeten, aber dafür die der Himmelsgeschosse, denn so ein fest eingeklebter Treibstoff hält den Verbrennungsbelastungen viel besser stand. Oder, um mit den Worten des „Nationalen Beratungsausschusses für Materialien“ zu sprechen, der für das US-Verteidigungsministerium einen Bericht mit dem Titel „Strukturklebestoffe für die Luft- und Raumfahrt“ erstellt: „Die Streitkräfte haben sich bei der Herstellung von taktischen Flugkörpern stark auf das Kleben verlassen. In den 1950er Jahren setzte die Armee das Kleben in Raketensystemen ein, die Anwendungen umfassten sowohl Primär- als auch Sekundärstrukturen.“
Mit anderen Worten: wer die Strukturen ändern will, muss sich des Klebers bemächtigen. Doch das ist Ende der 1950er Jahre schwer möglich, denn das Zeug ist für den Privatgebrauch nicht zu haben und außerdem schweineteuer. Eine 28-Gramm-Tube kostet – aufs Heute hochgerechnet – mehr als 100 US-Dollar. Ganz zu schweigen von den Gefahren, die so ein Sekundenkleber mit sich bringt. Oder, wie die britische Daily Mail im November 1959 schreibt: „Es ist unwahrscheinlich, dass der Sekundenkleber in den allgemeinen Gebrauch kommen wird, da seine hervorragende Haftung auf der menschlichen Haut die Handhabung erschweren könnte.“ Dass es eines Tages genau diese Haftung auf der Haut ist, die den Kleber in den allgemeinen (politischen) Gebrauch bringen wird, ist damals unvorstellbar.
Dafür wird der Sekundenkleber schon bald bei vielen anderen Gelegenheiten eingesetzt. Dentallabore nutzen ihn, um Zahnersatz anzufertigen, und Zahnärzte versiegeln komplette Kauleisten damit. Auch die US-Armee ist von den Möglichkeiten des Klebers angetan, denn er verspricht, Blutungen in Sekundenschnelle zu stoppen. In ihren Forschungslaboren entwickelt das Militär einen Kleber in Sprayform und zieht damit in den Krieg nach Vietnam. Dort rettet der Sprühkleber Dutzenden Soldaten das Leben. Vor allem zerschossene Lebern und Nieren werden damit behandelt. Über einen jungen Soldaten, dem eine Kugel die rechte Niere, die Leber und die Gallenblase zerfetzt hat, heißt es: „Die größeren Gefäße in der Leber wurden einzeln abgebunden, aber der Blutverlust hielt an. Zu diesem Zeitpunkt waren während der Wiederbelebung und der Operation schon mehr als 25 Blutkonserven verbraucht worden. Nach dem vorübergehenden Verschluss der Pfortader mit Cyanacrylat-Spray kam es zu einem vollständigen Stillstand der Blutung.“
Auch die Briten nutzen den Superleim. Allerdings nicht, um Wunden, sondern um Gullydeckel damit zu verschließen. Sie haben nämlich Angst, dass sich walisische Nationalisten in den Kanalschächten verstecken und Bomben zünden, wenn Queen Elizabeth‘ ihren Sohn Charles zum Prince of Wales ernennt. Die feierliche Zeremonie findet am 1. Juli 1969 in der Hafenstadt Caernarfon statt, und schon Tage zuvor sind sämtliche Gullydeckel verklebt. „Stadt wird für Prinz Charles zugeleimt“, titelt der Sunday Mirror. Nach dem Militär, der Atomwirtschaft und der Industrie ist jetzt auch der Staat auf den Geschmack des Superklebers gekommen. Und auch der Historiker, der den feinen Ironien der Geschichte nachspürt, leckt sich die Lippen, denn er erkennt, dass es – im Gegensatz zu heute – nicht die Kritiker der staatlichen Politik, sondern die staatlichen Behörden selbst sind, die den Sekundenkleber benutzen. Und zwar um die Ordnung aufrecht zu erhalten, nicht um sie zu stören.
Auch im Bergbau wird der Sekundenkleber eingesetzt. Im November 1972 meldet die Nottingham Evening Post: „Sekundenkleber trägt dazu bei, die Leistung der Grube zu steigern“. Das Prinzip ist einfach. Der Kleber wird durch Bohrlöcher in brüchige Kohleflöze gepumpt, wo er sich in Spalten und Rissen ausbreitet und die Flöze stabilisiert. Aufwendige Stütz- und Sicherungsarbeiten entfallen dadurch, was die Kosten senkt und die Produktivität steigert. Kein Wunder, dass schon bald Workshops mit Titeln wie „Klebstoffe im Bergbau“ angeboten werden.
1976 wird der Sekundenkleber in Großbritannien auch für den Privatgebrauch zugelassen und ist fortan in jedem Haushaltswarenladen zu haben. Es dauert nicht lange, bis die ersten Tuben in die Hände von Kindern gelangen, und bald schon müssen zusammengeleimte Finger auseinandergeschnitten und Milchzähne hinter verklebten Lippen freigelegt werden. 1977 sieht sich die Royal Society for the Prevention of Accidents gezwungen, eine Warnung vor den „beliebten neuen Superklebern“ zu veröffentlichen. Grund sind „eine Reihe von Unfällen, bei denen Kinder festgeleimt wurden.“ Aber das Jahr 1977 hat superklebertechnisch noch mehr zu bieten, denn es ist das Jahr, in dem der Klebstoff erstmals zum Erkennen und Sichern von Fingerabdrücken benutzt wird. Jahrzehnte später werden Klima-Aktivisten die Sache umdrehen und ihre Fingerspitzen mit Superkleber versiegeln, um bei Protestaktionen keine Fingerabdrücke zu hinterlassen oder – sollten sie geschnappt werden – der Polizei die erkennungsdienstliche Behandlung zu erschweren.
Die Polizei ist freilich auch schon 1978 gefordert, denn der Kleber fängt an, ein Mittel des Protestes zu werden. Allerdings ist der noch nicht politisch, sondern rein persönlich motiviert. Den Anfang macht eine Gruppe Männer, die 1978 bei einem Windhundrennen in England 300.000 Pfund Sterling gewinnt. Weil der Wettanbieter das Geld wegen Betrugsverdachts nicht auszahlen will, nehmen die Männer das Recht, das heißt die Leimtube selbst in die Hand und kleben die Schlösser hunderter Wettbüros zu, und zwar an einem Samstagmorgen, dem umsatzstärksten Tag der Woche. Die Geschäftsführer der Wettbüros haben daraufhin genau zwei Optionen: Schloss aufbohren oder Tür eintreten. Die meisten verzichten auf zerhackstückte Türen und lassen die die Schlüsseldienste bohren und bohren… und bohren und bohren… und gerüchteweise werden noch vor den Türen Wetten entgegengenommen, wie lange das dauert. Schnell wie die Windhunde sind dagegen die Klebemänner, denn die verleimen in den nächsten Monaten die Türen immer wieder aufs Neue. Dass sie das im großen Stil machen können, liegt auch daran, dass Sekundenkleber Ende der 1970er Jahre zu einem Massenprodukt geworden ist, das billig verkauft wird. Oder, wie „Mr. Sticky“, ein Mitglied der Klebebande, im Juli 1979 auf der Titelseite des Sunday Mirror erklärt: „Wir haben massenweise Superkleber im Großhandel gekauft und noch immer hunderte Tuben übrig. Wenn wir unser Geld nicht kriegen, werden wir unsere Aktionen ausdehnen bis sie die Größe einer Militäroperation haben.“
Dass mit den Militäroperationen kommt gleich, aber anders als gedacht. Für die Klebebande geht es derweil bergab. Der Superkleber jagt den Wettbüros keinen Schrecken mehr ein, denn nur ein paar Tage, nachdem „Mr. Sticky“ seine Drohung in die Welt hinausposaunt hat, meldet der Sunday Mirror: „Wettbüros, die Angriffe mit Superkleber befürchten, bekommen ein geheimes Lösungsmittel, um das schnelle Aushärten des Klebstoffs zu verhindern.“
Die Wettbüro-Kleber verschwinden daraufhin aus dem Licht der Öffentlichkeit, doch schon bald drohen neue, noch größere Kalamitäten. Im September 1980 titelt der Sydney Morning Herald. „Großbritannien im Griff einer neuen Gefahr: Sekundenkleber.“ Der dazugehörige Text ist eine Aufzählung von Unfällen, Missgeschicken und Streichen, in denen der Superkleber die Hauptrolle spielt. Da ist die Geschichte eines Kindes, das in eine Leimtube beißt und seine Lippen derart mit den Zähnen verklebt, dass nur ein chirurgischer Eingriff sie wieder zu trennen vermag. Dazu gibt es die Story einer notorischen Schnapsdrossel, die im Pub heimlich an ihrem Stuhl festgeleimt wird und – offiziell wegen der Schmerzen, tatsächlich aber aus Gewohnheit – ein Glas Whiskey nach dem anderen trinkt, während Polizisten sie freizuschneiden versuchen. Und da ist Nigel, der in einem Dorf nahe Manchester seine Ex-Schwiegereltern ans Sofa klebt. Freilich erst, nachdem er mit einer Axt in ihr Haus eingebrochen ist und sie überwältigt hat. Der Grund für Nigels „Besuch“ ist sein Sohn, denn den will er sehen. Der Junge lebt auch mit im Haus, genau wie Nigels Ex-Frau, die nach der Scheidung von Nigel zurück zu ihren Eltern gezogen ist, um nicht zu sagen, dort Zuflucht gesucht hat, denn Nigel ist – in schöner britischer Tradition – gewalttätig gegen sein Weib geworden, was wiederum dazu geführt hat, dass ihm ein Gericht den Umgang mit dem Jungen untersagt hat, was wiederum Nigel zum Einbruch bewogen hat, was wiederum … jedenfalls ist es ein Teufelskreislauf, im dem sich Nigel bewegt und den er mit einer Axt und Sekundenkleber zu durchbrechen versucht. Gelöst wird der Konflikt allerdings nicht von Nigel, sondern von seinem Ex-Schwiegervater, der sich – einem offenbar recht billigen Sofastoff sei Dank – von der Couch losreißt, sich in Ermangelung einer Bratpfanne den Wandspiegel schnappt und ihn Nigel über den Schädel zieht. Ergebnis: eine fette Platzwunde für Nigel und eine verkaufsträchtige Schlagzeile für den Daily Telegraph: „Axtmann leimt Schwiegereltern ans Sofa“, heißt es dort am 29. Juli 1981 auf Seite 5.
Derartige Überschriften sorgen bei den einen für Lacher, bei den anderen für Kopfschütteln – und bei manchen für Inspiration. Will sagen: Während Nigel seine fünfjährige Haftstraße für den Einbruch absitzt, ziehen andere Verbrecher nach, das heißt los und leimen ihre Opfer fest, um in Ruhe Beute zu machen. Besonders erfolgreich sind zwei junge Männer, die im Juli ‘83 ein Postamt in London um 60.000 Pfund erleichtern. Der Mitarbeiterin (sie ist die Einzige, die anwesend ist) wird Sekundenkleber auf die Hände geschmiert und selbige fest ans Mauerwerk gepappt. Sie hat Glück, dass das Mauerwerk mit einer Tapete bedeckt ist, denn als eine Stunde später ihr Mann kommt, der sie von der Arbeit abholen will, kann er sie mitsamt der Raufaser losschneiden. Den Rest erledigen die Ärzte – und ein Postsprecher, der erklärt: „Ich kann mich nicht erinnern, dass Räuber bisher jemals Sekundenkleber verwendet haben.“
Auch andere können sich nicht erinnern, aber nicht, weil es nichts zu erinnern gibt, sondern weil einiges verdrängt werden muss. Damit das funktioniert, wird wie wild am Kleber geschnüffelt. Die entsprechenden Verhaltensweisen folgen auf dem Fuß: „Terror-Teenies verwüsten Siedlung, nachdem sie Leim geschnüffelt haben”, verkündet der Belfast Telegraph am 15. Januar 1983 groß und breit auf der Titelseite, darunter die Worte: „Gangs leimschnüffelnder Jugendlicher terrorisieren Alte und Familien.“ Wie zu erwarten, hat die Berichterstattung auch hier inspirativen Charakter. Die Verhaltensauffälligkeiten machen jedenfalls die Runde, und bald werden aus dem gesamten Königreich Terror-Leim-Gangs gemeldet: „Leimbande schürt Angst bei Kindern“ (Aberdeen Evening Express), „Leimbände überfällt Kirche“ (Liverpool Echo) „Kleiner Hund erlebt Horror durch Leimbande“ (Sunday Mirror, London).
Die Leimbanden sind damit einmal quer durchs Land getrieben, jetzt verschwinden sie – genau wie die Wettbüro-Kleber – wieder aus dem Licht der Öffentlichkeit. Dafür übernehmen die Mäuse die Macht. Oder zumindest die Schlagzeilen, denn dort heißt es, dass Mäuse in Zukunft festgeleimt werden sollen. Die Sache hat ihren Hintergrund, denn seit Anfang der 1980er Jahre experimentieren jene amerikanischen Forscher, ohne die eine gute Story (seit wann eigentlich?) nicht mehr auskommt, mit sogenannten „Stick-Em Glue“ Fallen. Die sind mit Sekundenkleber bestrichen und sollen die Mäuse festsetzen. Und siehe da, es funktioniert. Die Nager gehen dem Leim auf dem Leim, kleben fest, verhungern und sterben. Einige können zwar entkommen, indem sie sich ihre Beinchen abbeißen (und damit auch gleich noch ihren Hunger stillen), aber das bleibt die Mausnahme. Zumindest bis 1984, denn da werden die in Amerika entwickelten Fallen zu Testzwecken nach Großbritannien geschickt. Eine der Firmen, die sie als erste probiert, ist Mars. Was freilich ein wenig verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die Mars-Riegel derart klebrig sind, dass es eigentlich genügen würde, selbige im Werk auszulegen, um die Mäuse damit zu fangen. Aber gut, Mars fängt die Mäuse nicht mit Karamell, sondern mit Klebstoff. Allerdings fängt sich die Firma daraufhin eine böse Schlagzeile ein, denn am 23. April 1984 titelt die Reading Evening Post „Superkleber-Mäusefalle ist grausam und unmoralisch“. Dass die Fallen aus den USA kommen, macht die Sache nicht eben besser. Um nicht zu sagen: zu einem Politikum. „Mars bezieht die Fallen direkt aus den USA“, lässt die Evening Post ihrer Leser wissen. Auch andere Zeitungen lassen keinen Zweifel aufkommen, wo die Fallen gebaut werden: „Die ‚Stick’em Glue‘ Fallen kommen aus Amerika“, schreibt der Aberdeen Evening Express. Tja, das Böse kommt immer von außen. Und Amerika ist dafür (seit wann eigentlich?) prädestiniert. Die Reaktionen sind entsprechend erwartbar: Leser schicken Drohbriefe an Mars, Aktivisten schimpfen auf Amerika, und in Horsham/West Sussex kommt die Königliche Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten an Tieren ob des Falles (und der Fallen) ganz unköniglich ins Rotieren.
Auch auf amerikanischer Seite hält man sich ans Drehbuch. Der Marketingdirektor von Stick’em Glue spielt den bösen US-Kapitalisten und erklärt: „Wenn wir die Falle patentiert bekommen, verkaufen wir sie definitiv auf dem britischen Markt.“ Beliebt macht er sich damit nicht. Zumal er freiraus erklärt. „Die Falle besteht aus einem Leim, der nicht trocknet. Die Maus klebt darin fest und versucht wegzukommen, indem sie ihre Nase benutzt, die noch frei ist. Damit aber verklebt sie auch die – und erstickt.“ Mit anderen Worten: Der feine Riecher der Maus entpuppt sich als fatales Näschen. Sie stürzt sich damit selbst in den Tod und kann, weil ihr der ewig flüssige Leim nicht nur in den Riecher, sondern auch in den Rachen läuft, weder verhungern noch sich die Beinchen abbeißen. Ein höchst intelligentes Prinzip. Zumindest theoretisch. In der Praxis sieht’s dagegen – wie immer – ganz anders aus, mit dem Ergebnis, dass sich die Leimfalle für Mäuse nicht durchsetzt. Auch weil die Tiere nicht wie versprochen lautlos ersticken. „Hausbesitzer“, schreibt John Lienhard in seinem Buch über die großen und kleinen Erfindungen der Moderne, „sahen sich mit einer schreienden Maus konfrontiert, die noch lebte, aber vor Erschöpfung starb und dabei an ein Stück klebrige Pappe geleimt war. Wenn Mäuse getötet werden sollen, können die meisten Leute mit einem schnell gebrochenen Genick umgehen; die grausameren Sachen verkaufen sich nicht.“
Die Animal Liberation Front dreht derweil den klebrigen Spieß um und leimt 1984 in England erstmals die Zündschlösser von Tiertransportern zu. Auch die Türen von Fleischereien und Schlachthöfen werden „versiegelt“. Zeitgleich kleben Aktivisten im Rahmen ihrer „Stop the City“-Kampagne in mehreren britischen Großstädten die Türen von Banken und Immobilienbüros zu und überziehen die Geschäftsviertel mit – wie die Birmingham Evening Mail schreibt – „einer Welle von Leim-Attacken“. Auch die Anti-Atom- und Friedensbewegung wird aktiv. Im März 1984 verleimen einige ihrer Anhänger in der westenglischen Stadt Nantwich die Schlösser des Eingangs zu einem Atombunker, der im Falle eines Nuklearwaffenangriffs Politikern, Behördenvertretern und Militärs Schutz bieten soll. Und es geht weiter: Im September 1984 wird ein zwischen Liverpool und Manchester gelegenes Militärgelände mit Leim attackiert. Es dient als Sammelplatz für tausende Soldaten, die von da aus zum Manöver „Lionheart“ nach Deutschland aufbrechen sollen. Die ersten, die an Morgen des 17. September aufbrechen, sind allerdings die Ketten, die die Einfahrten des Geländes sichern sollten. Die Aktivisten haben nämlich die Vorhängeschlösser mit Sekundenkleber zugeschmiert, und die verantwortlichen Militärs entscheiden sich, die Ketten zu sprengen, damit die Soldaten frei sind, ihnen zu folgen.
Es geht nach Deutschland. Genauer gesagt nach Niedersachsen, wo „Lionheart 84“ stattfindet. Mit mehr als 130.000 Soldaten ist es das bis dato größte Militärmanöver seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Geprobt wird die Verteidigungsfähigkeit der Nato im Falle eines sowjetischen Angriffs. Um die Russen nicht zu provozieren, werden die angreifenden Truppen von der Nato nicht „Rote“, sondern „Orangefarbene“ genannt, was freilich nichts an der Tatsache ändert, dass die „russischen“ Angreifer aus deutschen, amerikanischen und niederländischen Soldaten bestehen, die – in einer welthistorisch noch nie erprobten Koalition – gegen die Briten (in Blau) kämpfen, wobei ein Teil der britischen Truppen auch bei den orangefarbenen Roten mitmacht. Die Farblehre ist verwirrend, aber die schiere Größe und Unübersichtlichkeit der gesamten Unternehmung ist es noch mehr. Zusammen mit den traditionellen amerikanischen Mängeln im Fach Geographie führt das dazu, dass es an einigen Frontabschnitten drunter und drüber geht. Als britische Fallschirmtruppen auf einer Kuhweide nahe einer niedersächsischen Kleinstadt landen, um eine Brücke zu besetzen, scheint die Bevölkerung jedenfalls nicht gewarnt worden zu sein. Schon gar nicht, dass die Soldaten ihre Autos für Barrikadenzwecke zu benutzen gedenken. Ein Fallschirmjäger schreibt über die Deutschen: „Einige von ihnen waren intelligent genug, um aus ihren Wagen zu steigen und uns zu fragen, was wir da tun. Wir antworteten ihnen in einem Russisch, das wir aus Romanen kannten. So wie wir gekleidet waren, so nahe an der Grenze, hätten wir in der Tat Russen sein können. Die einheimischen Frauen waren klug genug, vorsichtshalber die Flucht zu ergreifen. Schließlich tauchte die Polizei auf. Sie waren nicht höflich, also haben wir sie erschossen. Da wir aber nur Platzpatronen hatten, mussten wir sie gefangen nehmen. Weitere Polizisten tauchten auf. Sie wurden entwaffnet und gefesselt. Immer noch keine blauen Kräfte. Kurze Zeit später tauchte der Bürgermeister mit dem Polizeikommandanten auf. Sie sprachen sehr gut Englisch, aber das hat ihnen nicht viel genutzt. Wir haben auch sie gefangen genommen. Der Tag ging so dahin. Wir sangen den Einheimischen und den Gefangenen auf Deutsch etwas vor, um sie aufzuheitern. Wir stimmten die deutsche Fallschirmjägerhymne aus dem Zweiten Weltkrieg an, ‚Rot scheint die Sonne‘, was ihnen gefiel, und das Horst-Wessel-Lied, das sie angeblich nicht so sehr mochten. Jemand sagte uns, dass wir dafür verhaftet werden könnten. Aber wie? Wir hatten die Polizei der Stadt gefangen genommen. Der Bürgermeister sagte uns immer wieder, wir seien hier nicht richtig. Nun, das hatten wir inzwischen auch herausgefunden. Die Amis hatten uns am falschen Ort abgesetzt.“
Ich bin abgeschweift, ich weiß. Aber das war das Ziel. Ich wollte die Geschichte vor diesem Kalenderblatt erzählen. Denn die Friedens- und Anti-Atomkraft-Aktivisten, die am 27. September 1984 mit dem Leim in den Taschen durchs australische Outback in Richtung Uranmine marschieren, müssen ja auf irgendeine Weise auf ihn aufmerksam geworden sein und den Sekundenkleber als Mittel des Protestes betrachten. Und sie müssen auch erkennen – und erkennen es tatsächlich auch – dass es nicht mehr genügt, Schlösser zuzuleimen. Es ist überhaupt zu wenig, den Sekundenkleber nur auf und in Dinge zu schmieren. Wenn sie etwas erreichen wollen, müssen sie sich selbst mit der Kraft des Klebers verbinden…